Mein Nachbar und der Wurm
Seit vier Tagen beobachte ich nun meinen Nachbarn, der einen Streifen Wiese außerhalb seines Gartenzaunes bearbeitet. Der Streifen ist vielleicht einen Meter breit und acht Meter lang.
Am ersten Tag sah ich wie mein Nachbar das Moos aus dem Wiesenstück putzte. Am zweiten Tag befreite er die Rhizome der Schwertlilien vom Unkraut. Am dritten Tag - keine Ahnung, was er da gemacht hat. Am vierten Tag ebenso. Tatsache ist, dass er sich in aller Ruhe und mit unglaublicher Hingabe vier Tage lang um ein vergleichsweise kleines Wiesenstück gekümmert hat.
In dieser Zeit bin ich vorbeigefahren, weil ich zu einem Geschäftstermin in die Stadt musste. Ich bin vorbeigefahren weil ich auf die Bank, auf die Post und in den Supermarkt wollte. Ich bin vorbeigefahren, weil ich meine Tochter abholen sollte. Ich bin am Weg ins Fitness-Studio vorbeigefahren.
Und immer sah ich meinen Nachbarn in gebückter Haltung hingebungsvoll dieses Wiesenstück säubern. Ich finde es unglaublich, dass sich jemand dafür so viel Zeit nimmt. Unglaublich schön! Ich versuche mir vorzustellen, wie das wäre, wenn ich so leben würde: Nicht dauernd vor dem Computer, nicht immer mit Terminen beschäftigt, nicht so viel unterwegs, nicht ständig To-Do-Listen abarbeitend, nicht so oft gestresst. Dabei bin ich gar nicht der Typ Mensch, der sich nur mit einer gehörigen Portion Stress wohlfühlt.
Aber am ersten sonnigen Frühlingstag einfach den PC abdrehen, keine E-Mails beantworten, das Telefon ignorieren – wann hab ich das zum letzten Mal gemacht? Ich rufe meinen Mann an und frage ihn genau das: Wann haben wir – wir sind beide unsere eigenen Chefs und können uns eigentlich die Zeit einteilen – das zum letzten Mal gemacht? „Ja“, sagt mein Mann, „das ist wirklich eine Weile her. Irgendwo ist da der Wurm drin.“ „Das finde ich auch,“ sage ich, drehe den Computer ab und gehe in den Garten – zu den Regenwürmern.